Die übersehene Revolution

Nehmen wir an, Sie machen für eine Klassenfahrt einen Obstgroßeinkauf: Früchte als Proviant für lange Busfahrten. Sie kaufen 585 Äpfel und, weil es in ihrem Jahrgang ein paar Leute mit Apfelallergie gibt, acht Birnen und noch ein paar Bananen. Würden Sie im Elternbrief mitteilen, für die Klassenfahrt seien »hauptsächlich Äpfel und Birnen« eingekauft worden? Oder würden Sie doch eher schreiben, für die Busfahrten gebe es Äpfel, und für diejenigen, die keine wollten, zusätzlich ein paar Birnen und Bananen?

Vergangene Woche berichtete »Wirtschaft vor acht « in der ARD über neue Zahlen der Internationalen Energieagentur (IEA). Es ging um den »Global Energy Review 2025 « der IEA und um den großen Zuwachs beim weltweiten Strombedarf: Der ist laut IEA um 4,3 Prozent gestiegen, wegen Rechenzentren für KI-Anwendungen, elektrifizierter Industrie, mehr Elektromobilität, mehr Klimaanlagen wegen der wachsenden Hitze und so weiter.

585 vs. 8,2

»Wirtschaft vor acht« erklärte, es habe auch einen starken Ausbau der Kraftwerksleistung gegeben. Der basiere vor allem auf einem »Boom von Solaranlagen und bei neuen Kernkraftwerken, die weltweit eine Renaissance erleben«. Das ist eine, vorsichtig gesagt, bemerkenswerte Interpretation.

Tatsächlich sind die Birnen im obigen Beispiel die Atomkraft, die Äpfel aber die erneuerbaren Energien. 585 Gigawatt erneuerbare Peak-Kapazität wurde 2024 laut der Internationalen Agentur für erneuerbare Energien (IRENA) zugebaut. Wichtig: Kapazität ist nicht das gleiche wie die erzeugte Strommenge. Aber auch bei der erzeugten Menge macht Strom aus Sonne, Wind und Wasser laut IEA »fast drei Viertel des Gesamtwachstums« aus.

Laut dem World Nuclear Industry Status Report, der von dem Energieexperten Mycle Schneider koordiniert und herausgegeben wird, wurde im gleichen Zeitraum 8,2 Gigawatt Kapazität aus Atomkraft ans Netz angeschlossen. Noch einmal: Das Verhältnis beim Kapazitätswachstum ist 585 zu 8,2. Wenn irgendetwas »hauptsächlich« ausgebaut wurde, dann Erneuerbare.

Seltsame Begeisterung für Atomenergie

Um den genannten World Nuclear Industry Status Report wörtlich zu zitieren : »Die Anzahl der Länder, die neue Atomkraftwerke bauen, nahm im Jahr 2024 ab.« Tatsächlich stagniert die installierte Leistung aus Atomkraft, und zwar schon seit vielen Jahren, denn Atomkraft ist sehr teuer. Das Wachstum der nuklearen Stromproduktion, das die IEA für das Jahr 2024 verzeichnet, basiert maßgeblich auf »wieder aufgenommenem Betrieb mehrerer Reaktoren in Frankreich und Japan«, wie die IEA in ihrem Bericht erläutert. Um das herauszufinden, muss man den Bericht allerdings lesen, nicht nur die Pressemitteilung.

Die IEA pflegt eine seltsame Begeisterung für Atomenergie und hält diese Mär über ihre »Renaissance« geschickt am Leben: So weist sie in ihrem eigenen Bericht gern Erneuerbare und Kernenergie zusammen aus, so fällt es nicht so auf, dass das eine rasant wächst, das andere fast gar nicht.

Die relevanten Zahlen über den Ausbau von Kapazitäten für die Stromproduktion liefert die Schwester-Agentur IRENA, aber die dringt im medialen Chorus seltsamerweise so gut wie gar nicht durch.

Über die IEA-Zahlen wurde nicht nur in »Wirtschaft vor acht« berichtet, sondern in vielen Medien. Schlimm, schlimm, das war oft der Tenor, wir brauchen noch mehr Strom, wo soll der nur herkommen? Die in der gleichen Woche veröffentlichten verblüffenden Fakten über den Ausbau erneuerbarer Energien  von der IRENA schafften es so gut wie nirgends über die Wahrnehmungsschwelle der Redaktionen.

Globaler Kipppunkt erreicht und überschritten

Hier also drei relevante Zahlen aus den vergangenen drei Jahren zum Merken, Verinnerlichen und Weitererzählen. Der Anteil der erneuerbaren Energien am gesamten Kapazitätszuwachs beim Strom auf dem Planeten Erde lag:

  • 2022 bei 80 Prozent

  • 2023 bei 86 Prozent

  • 2024 bei 92,5 Prozent

Eigentlich müssten die Überschriften zum Thema lauten: Es wächst bei der Stromproduktion fast nichts mehr, außer erneuerbaren Energien. Wir haben einen globalen Kipppunkt erreicht und überschritten – und so gut wie niemand bekommt es mit.

Unschlagbar günstige Kombination

In den restlichen 7,5 Prozent nicht erneuerbarem Kapazitätszuwachs im Jahr 2024 muss sich irgendwo die vermeintliche »Renaissance der Atomkraft« verstecken. Sie teilt sich dieses schmale Segment mit anderen Formen der Stromerzeugung, vor allem natürlich mit fossilen Kraftwerken.

Richtig ist: Selbst das aktuelle Megawachstum der erneuerbaren Energien reicht noch lange nicht, und es ist global sehr ungleich verteilt. Insgesamt wuchs die erneuerbare Kapazität laut IRENA im Jahr 2024 um 15,1 Prozent, sie müsste aber um 16,6 Prozent pro Jahr wachsen, um das in Dubai verabschiedete Ziel zu erreichen, die erneuerbare Kapazität bis 2030 zu verdreifachen.

Fast zwei Drittel dieses Zuwachses entfielen auf China, die G7-Nationen trugen zusammen nur 14,3 Prozent bei. Viel zu gering wachsen die Erneuerbaren – noch – in Subsahara-Afrika, Zentralamerika und der Karibik. Aber das wird sich ändern, denn Photovoltaik, Speicher und E-Mobilität auf zwei oder drei Rädern sind gerade für Schwellenländer eine unschlagbar günstige Kombination.

Es gibt drei Arten von Kurven

Was passiert, wenn Menschen in einem Schwellenland die Vorzüge billigen Sonnenstroms für sich entdecken, ist gerade in Pakistan zu beobachten. Dort wurde im vergangenen Jahr etwa doppelt so viel Peak-Kapazität zugebaut wie Atomkraftkapazität weltweit: 17 Gigawatt.

Dass die Kapazität trotz allem noch nicht ausreichend zunimmt, ist eine Herausforderung, aber die Trends machen Hoffnung. Wenn man sich die IRENA-Zahlen für die vergangenen 25 Jahre über alle Formen der Stromproduktion hinweg vergleichend ansieht, zeigen sich drei klar unterscheidbare Trends:

  • Es gibt Formen der Stromproduktion, die wachsen linear, meist sehr langsam, oder sie stagnieren fast. Das trifft etwa auf Gezeitenkraftwerke, Energie aus Geothermie oder eben Atomkraft zu.

  • Es gibt Kurven, die nach anfänglich steilem Wachstum immer flacher werden, die also immer weniger wachsen. Das zeigt sich vor allem bei Wasserkraft, dort wird es immer schwieriger, geeignete Standorte zu erschließen, und bei Strom aus fossilen Quellen. Das Wachstum wird hier immer kleiner, das Plateau ist in Sicht.

  • Das umgekehrte Bild zeigen nur zwei der Kurven: Energie aus Sonnen- und Windkraft wächst exponentiell, die Kurven gehen also immer steiler nach oben.

Noch liegen die konventionellen Formen der Stromproduktion in den meisten Weltregionen – oft nur noch knapp – vorn. Auch in Asien, trotz des Riesenwachstums in China. Doch der Abstand schrumpft überall, immer schneller. In Europa und Ozeanien hat die erneuerbare Kapazität die fossile und nukleare schon überholt. Und jetzt kommt das rasante Wachstum von billigen Stromspeichern dazu.

Wir erleben keine »Renaissance der Atomkraft«. Wir erleben eine Energierevolution, wie der Planet sie noch nie zuvor gesehen hat, und sie ist erneuerbar. Noch nie sind Methoden, Strom bereitzustellen, so schnell gewachsen, wie Sonne und Wind das seit Jahren tun.

Es wird Zeit, dass diese Realität in die Köpfe einsickert – und in die Redaktionen.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Fassung des Artikels wurde Mycle Schneider als Anti-Atomkraftaktivist bezeichnet. Wir haben den Begriff durch die neutralere Bezeichnung als Energieexperte ersetzt, wie sie etwa auch das Munzinger-Archiv vorschlägt, das Informationen zu Personen des öffentlichen Lebens sammelt.

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