Deutschland, Land der Luxusprobleme?

Deutschland, Land der Luxusprobleme?

Heute aber wirklich – bis 17 Uhr müssen die Verhandlungsgruppen von Union und SPD ihre Papiere aus den Koalitionsgesprächen einreichen. Fühlt sich vielleicht an, wie wenn früher der Geschichtslehrer die Klausuren einsammelte und den letzten Nachzüglern, die noch hastig irgendetwas hinkritzelten, das Papier geradezu aus der Hand reißen musste: »Leute, für mich ist doch auch Montag, sechste Stunde!«

Danach werden die Inhalte ausgewertet und zusammengeführt, damit sich dann die 19-köpfige Leitungsrunde (die Frage »Wieso ausgerechnet 19?« bitte an Jens Spahn richten) darüber beugen und die vielen eckigen Klammern mit den streitigen Inhalten beseitigen kann. Was sind die Streitpunkte? Migration, so ist zu hören und zu lesen, Steuern natürlich, und wohl auch das Bürgergeld.

Wollen wir hoffen, dass vor allem Andrea Lindholz pünktlich abgibt; die CSU-Frau verhandelt das schwierige Thema Migration. Denn sie sollte um 17 Uhr nicht zu spät in der Sitzung der Unionsfraktion auftauchen, wo sie heute als Bundestagsvizepräsidentin nominiert werden könnte. Auch die anderen Fraktionen werden ihre Kandidatinnen und Kandidaten küren. Besonders spannend dürfte dabei die Entscheidung der Grünen werden, wo sich sowohl die bisherige Amtsinhaberin Katrin Göring-Eckardt als auch der frühere Parteichef Omid Nouripour und die Noch-Kulturstaatsministerin Claudia Roth schriftlich beworben haben.

Glücklich ist das Land, in dem eine gepflegte Kampfkandidatur in der Grünenfraktion zu den politischen Topereignissen des Tages zählt. Oder in dem Koalitionäre kontrovers diskutieren, ob man die Vermögensteuer reaktivieren oder doch eher eine Finanztransaktionsteuer einführen soll. Gewiss, das Thema Migration ist ein richtig dickes Brett. Aber lässt sich hier unter Demokratinnen und Demokraten der politischen Mitte wirklich kein gemeinsamer Kurs finden? Ganz andere Sorgen haben etwa die Menschen in der Ukraine, die nicht nur von der geplanten teilweisen Waffenruhe nichts spüren, sondern die auch heute bang nach Saudi-Arabien blicken werden, wo in Riad die Gespräche zwischen Russland und den USA weitergehen. Mit der Ukraine als Nebendarsteller.

Was Donald Trumps Sondergesandter Steve Witkoff am Wochenende in Interviews über sein jüngstes Gespräch mit Wladimir Putin äußerte, lässt wenig Gutes hoffen. Nein, der russische Präsident sei gewiss kein »bad guy«, sagte Witkoff, und er habe glaubhaft versichert, dass er jedenfalls den Rest Europas nicht auch noch attackieren wolle. Putin habe sogar erzählt, dass er nach dem Attentat auf seinen »Freund« Trump für diesen gebetet habe. Und der russische Autokrat und Kriegstreiber habe ihm »ein wundervolles Porträt von Präsident Trump von einem führenden russischen Künstler« mitgegeben. Also alles in allem: »Ich mochte ihn. Ich fand, er war ehrlich zu mir.«

Was unsere Enkel wohl eines Tages in ihren Geschichtsklausuren über diese Menschheitsphase schreiben werden?

  • Mehr Hintergründe: Schwarz-roter Stresstest 

Diplom weg, Kandidatur weg?

Erst Bürgermeister von Istanbul gewesen, dann mehrere Monate im Gefängnis gesessen, schlussendlich Präsident der Türkei geworden – so lief es seinerzeit für Recep Tayyip Erdoğan. Vielleicht ist es dem autokratischen Präsidenten der Türkei wegen dieser Parallelen so wichtig, seinen Herausforderer Ekrem İmamoğlu, bis vor wenigen Tagen Istanbuler Oberbürgermeister, politisch zu vernichten?

Formal gesehen ist Erdoğan seinem Ziel schon sehr nahegekommen. Denn İmamoğlu sitzt wegen Terror- und Korruptionsverdachts in Haft, wurde seines Amtes enthoben und – vielleicht der folgenreichste Punkt – ihm wurde sein Universitätsabschluss aberkannt, der in der Türkei die Bedingung für eine Präsidentschaftskandidatur ist. Nicht nur die Unterstützer und Parteifreunde İmamoğlus werten die Vorwürfe als fabriziert und politisch motiviert.

Heute dürften die Massenproteste gegen diesen politischen Übergriff eines gleichgeschalteten Justiz- und Sicherheitsapparats unter der Herrschaft Erdoğans weitergehen. Am Wochenende demonstrierten nach Angaben der Opposition schon Hunderttausende Menschen. Und nicht nur die 1,7 Millionen Mitglieder von İmamoğlus Partei CHP wählten ihn trotzdem zum Präsidentschaftskandidaten, sondern weitere 13,2 Millionen Türkinnen und Türken beteiligten sich als Akt der Solidarität symbolisch an der Kandidatenkür.

Auch die Istanbuler Börse ist wegen der Aufregung um die türkische Demokratie eingebrochen; zeitweise wurde sogar der Handel unterbrochen. Um die Wertverluste von rund 16 Prozent seit İmamoğlus Festnahme zu bremsen, geht der Handel heute mit angepassten Regeln an den Start, unter anderem mit einem Verbot von Leerverkäufen.

  • Die ganze Geschichte hier: Kommt es jetzt zum Aufstand gegen Erdoğan? 

Ärzte unter Beschuss

Heute dürften die Angriffe Israels in Gaza weitergehen. Die Lage der Menschen, noch dazu im Fastenmonat Ramadan, ist dramatisch. Wieder müssen viele Palästinenser nach Evakuierungsanordnungen und Warnungen des israelischen Militärs mit ihren letzten Habseligkeiten aufbrechen und in dem ohnehin verwüsteten Küstenstreifen nach einem halbwegs sicheren Fleck suchen.

Meine Kollegin Juliane von Mittelstaedt hat einen Report über ein besonders düsteres Kapitel dieses Krieges verfasst: das »Kampfgebiet Krankenhaus«. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab es bisher 656 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen im Gazastreifen, mit 878 Toten und 1349 Verletzten. Israels Armee argumentiert, dass 85 Prozent aller großen medizinischen Einrichtungen in Gaza von der Hamas für Terroroperationen verwendet würden. Doch die Beleglage ist dünn.

Insgesamt wurden laut Uno mehr als 1000 medizinische Fachkräfte getötet. »Nur die Hälfte der 36 Krankenhäuser sind noch arbeitsfähig – und das nur stark eingeschränkt«, schreibt meine Kollegin. »Mehrere Einrichtungen wurden komplett zerstört. Und das in einem Kriegsgebiet, wo in 15 Monaten nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza weit mehr als 100.000 Palästinenser verletzt und mindestens 47.000 getötet wurden. Und wo nun der Krieg nach zwei Monaten Waffenruhe weiterzugehen scheint.« Juliane hat auch mit Ärzten gesprochen, die in israelischer Haft waren und schwere Vorwürfe über Misshandlungen erheben. Auch hier ist es schwierig, die Vorwürfe im Einzelnen zu überprüfen. Sind die Misshandlungen wirklich systematisch gegen Mediziner gerichtet? Doch fest steht: Die Schilderungen der Ärzte, Krankenpfleger und Sanitäter in diesem Bericht sind schockierend.

  • Mehr Hintergründe: Kampfgebiet Krankenhaus 

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  • Merz braucht Menschen – nicht nur Milliarden: Ob Handwerker aus der Heimat oder Forscher aus dem Ausland: Ohne die richtigen Fachkräfte könnte das milliardenschwere Finanzpaket der künftigen Regierung verpuffen. Friedrich Merz muss zum Personalentwickler werden. 

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Gewinnerin des Tages …

... ist Winnie Byanyima, Exekutivdirektorin von UNAIDS, dem Programm der Vereinten Nationen, das den Kampf gegen HIV und Aids bündeln soll. Unter dem Dach dieser Initiative sollen nicht nur die vielen nationalen Programme und Bemühungen internationaler Organisationen wie der WHO gegen die Immunschwächekrankheit koordiniert werden. UNAIDS ist auch eine wichtige Sammelstelle für Daten und Erkenntnisse darüber, wie Aids Gesellschaften und Volkswirtschaften beeinträchtigt.

Heute wird Winnie Byanyima, gebürtig aus Uganda, die Öffentlichkeit darüber informieren, was das Einfrieren der Hilfsmittel durch die Regierung von Donald Trump für ihre Arbeit bedeutet. Vermutlich wenig Gutes, aber nun wird die Welt das Ausmaß der Einbrüche und die drohenden Folgen erfahren. Byanyima ist eine beeindruckende Frau, studierte Luftfahrtingenieurin, die sich schon in ihrer Heimat politisch engagierte, international für die Rechte von Frauen und sexuellen Minderheiten kämpfte, und eine Karriere sowohl im zivilen Bereich bei der Hilfsorganisation Oxfam als auch in mehreren Uno-Institutionen und -Arbeitsgruppen hinter sich hat.

Noch Ende 2024 konnte UNAIDS einen historischen Tiefstand bei HIV-Infektionen melden. Doch ob das Ziel der Uno realistisch ist, die Zahl der Neuinfektionen bis 2030 um 90 Prozent gesenkt zu haben, stand schon vor Trumps Wahl in Zweifel. Jetzt, ohne Unterstützung der US-Regierung, könnte es ganz scheitern.

  • Sorge um Fortschritt im Kampf gegen Aids und HIV

Die jüngsten Meldungen aus der Nacht

  • USA drängen auf Waffenruhe im Schwarzen Meer, Russland dämpft Erwartungen: In Riad wird weiter um eine Feuerpause in der Ukraine gerungen. Am Montag sprechen die USA und Russland direkt. Hauptthema: das Schwarze Meer. Vorab zeigt sich die große Kluft zwischen den Verhandlern.

  • Pariser stimmen für 500 neue autofreie Straßen: Die Wahlbeteiligung war gering, aber das Ergebnis ist klar: Paris soll grüner werden. Dazu müssen Parkplätze weichen, Hunderte Straßen könnten zu Fußgängerzonen werden. Die Opposition warnt vor den Folgen.

  • Skifahrerin Lindsey Vonn pulverisiert Altersrekord: »Ich habe es allen gezeigt«: Zum Ende ihrer Comeback-Saison schaffte es Lindsey Vonn auf das Siegerpodest – als mit Abstand älteste Alpine der Geschichte. Im Ziel flossen die Tränen.

Heute bei SPIEGEL Extra: »Hilfe, ich soll befördert werden«

Nach einigen Jahren im Berufsleben scheinen die nächsten Schritte folgerichtig. Was aber, wenn man gar keine Führungskraft werden möchte? Und wie findet man heraus, was man wirklich will? Coachin Susan Moldenhauer erklärt, wie man diese Fragen am besten angeht und Antworten findet .

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.

Ihre Melanie Amann, Stellvertretende Chefredakteurin

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version hatten wir Claudia Roths Kandidatur für den Posten der Bundestagsvizepräsidentin nicht aufgeführt. Wir haben das nachgeholt.

Lars Klingbeil und Friedrich Merz im Einzelgespräch: Worüber wird gestritten?

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Proteste wegen der Festnahme von İmamoğlu in Istanbul am Sonntag

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Palästinensische Zivilisten fliehen aus Rafah am Sonntag

Foto: Abdel Kareem Hana / AP

Winnie Byanyima

Foto: Andrew Kelly / REUTERS

Stephanie Wunderlich / DER SPIEGEL

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