Kann Erdoğan den Geist von Pikachu wieder einfangen?

Und Pikachu flitzt

Seit mehr als einer Woche tragen die zumeist jungen Demonstrantinnen und Demonstranten ihre Wut und ihren Frust auf die Straßen Istanbuls und anderer Städte, schnell ging es nicht mehr allein um den inhaftierten Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu. Die Generation, die nur Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan als mächtigen Mann der Türkei kennt, hat Fragen: Was für eine Zukunft wird uns hier eigentlich geboten? Warum kann ich mir nicht einmal einen Kaffee im Café leisten, während Altersgenossen in anderen Ländern reisen und im Ausland studieren können? Wenn einem Bürgermeister das Unidiplom einfach aberkannt werden kann, kann das auch mir drohen? Wo war die Polizei, als die Erde bebte? Als wieder einmal eine Frau in der Türkei getötet wurde?

Da tauchte plötzlich Pikachu bei einem Protestzug in Antalya auf. Man sah ihn in schnellen Trippelschritten während einer Demonstration hin und her flitzen. Das Video des jungen Mannes, der in das Kostüm der Pokémonfigur geschlüpft war, ging viral. Und zauberte während dieser Tage voller politischer Gewalt in der Türkei vielen ein Lächeln ins Gesicht. Nicht einmal hart gesottene türkische Nachrichtensprecher- und -sprecherinnen konnten sich ein Grinsen verkneifen.

Diese sehr türkische Art, in politisch noch so harten Phasen (von denen es seit Gründung der Republik 1923 einige gab) den Humor und den Sinn für Satire nicht zu verlieren, zeigte sich wohl zuletzt während der Gezi-Park-Proteste 2013. Die bis dahin vielleicht größten Massenproteste in der Geschichte der Türkei hatte die Regierung Erdoğan provoziert, weil sie die Bäume im Gezi-Park fällen lassen wollte, um dort noch ein Einkaufszentrum hinzustellen.

Auch heute scheint dieser türkische Feinsinn für Widerstand gegen die Obrigkeit durch. Sei es der junge Mann, der demonstrativ vor einer Reihe von Polizisten in Ankara stand und in dem Buch des Staatspräsidenten mit dem Titel »Eine gerechtere Welt ist möglich« schmökerte. Sei es der Derwisch, der sich mit Gasmaske (gegen das Tränengas) in Trance drehte. Sei es die Mutter, die bei der großen Kundgebung am Wochenende in Istanbul ein Plakat mit der Aufschrift »Wir sind auch die Mütter von Pikachu!« in die Höhe hielt. (Mehr zu den Massenprotesten erfahren Sie hier .)

Pikachu entwickelt sich langsam zum Maskottchen der Proteste. Der Geist, oder besser gesagt: das Pokémon ist aus der Flasche. Nach Durchsicht einiger Fachseiten lässt sich festhalten: Es hat dafür vielleicht die richtigen Eigenschaften. Es ist süß und fröhlich, mutig und stets bereit, seinen Freunden zu helfen. Vor allem mit Elektrizität. Bei Stress oder Wut kann es dabei zu spontanen Entladungen kommen, heißt es.

  • Mehr Hintergründe: Die Gen Z im Kampf gegen Erdoğan 

Lesen Sie dazu auch den aktuellen SPIEGEL-Leitartikel

  • Deutschland braucht eine Türkeistrategie: Es spricht nichts dagegen, dass die Bundesregierung mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan im Gespräch bleiben will. Sie sollte nur wissen, worüber. 

Entscheidet sich heute die politische Zukunft von Marine Le Pen?

Es ist vielleicht eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zwischen liberalen Demokratien und autoritären Systemen: dass sich auch die Mächtigen vor dem Gesetz verantworten müssen.

Nun ist Marine Le Pen nicht französische Präsidentin. Aber die 56-jährige starke Frau des rechtspopulistischen Rassemblement National (RN) würde es gern werden. (Mehr darüber, wie Europas Rechte so mächtig werden konnten, erfahren Sie hier ). Ob sie bei der nächsten Wahl 2027 überhaupt antreten kann, entscheidet heute ein Gericht in Paris. Der Politikerin wird vorgeworfen, als Europaabgeordnete in den Jahren 2004 bis 2016 im großen Stil öffentliche Gelder veruntreut zu haben.

Ein Freispruch, so berichtet meine Kollegin und Paris-Korrespondentin Britta Sandberg, ist unwahrscheinlich – zu erdrückend scheinen die Beweise. Kommt es zu einem Schuldspruch, gebe es zwei Möglichkeiten. Erstens: Le Pen wird mit sofortiger Wirkung verurteilt und für unwählbar erklärt, somit dürfte sie 2027 nicht antreten. Zweitens: Le Pen wird zwar verurteilt, aber ohne sofortige Wirkung. Dann könnte sie in Berufung gehen und 2027 als Kandidatin ihrer Partei antreten.

Marine Le Pen beklagt, die französische Justiz wolle ihren politischen Tod (Möglichkeit eins). Und sogar Politiker der Mitte sehen diesen möglichen Ausgang kritisch. Gérald Darmanin, früherer Innenminister unter Präsident Emmanuel Macron, forderte kürzlich, dass der Kampf gegen Le Pen an der Wahlurne stattfinden solle. Britta wird für uns von vor Ort berichten.

Übrigens: Auch der frühere französische Präsident Nicolas Sarkozy steht im selben Gebäude vor Gericht – bereits zum fünften Mal. Der Vorwurf: In seinen Wahlkampf 2007 sollen Millionen vom Regime des damaligen libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi geflossen sein. Der Ex-Präsident bestreitet die Vorwürfe. Heute verlesen seine Verteidiger ihre Abschlussplädoyers.

  • Mehr Hintergründe: Marine Le Pen will Deutschland nicht schützen 

Hoffen auf Wunder

»Ab Tag drei oder vier nach einem Erdbeben fangen Experten an, von einem ›Wunder‹ zu sprechen, wenn noch Überlebende gefunden werden.« Dieser Satz stammt aus der Reportage unserer Kollegin Verena Hölzl, die ich Ihnen ans Herz legen möchte. Verena war für uns in Bangkok und hat am Tag nach dem verheerenden Erdbeben in Thailand und Myanmar aus der thailändischen Hauptstadt berichtet. 

Unter anderem war sie an der Einsturzstelle eines im Bau befindlichen Hochhauses. Mehr als hundert Menschen wurden am Wochenende unter dem Schutt vermutet. Verena sah die Familienangehörigen am Rande der riesigen Trümmerberge warten, viele der Bauarbeiter stammten offensichtlich aus Myanmar.

Im Zentrum des nördlichen Nachbarn befand sich das Epizentrum des Bebens. Myanmar ist seit einem Militärputsch 2021 abgeschottet, verlässliche Informationen dringen kaum nach außen, und so kann man sich auf die Angaben der Junta von »mehr als Tausend« Toten kaum verlassen. Bei dem Erdbeben Anfang 2023 in der Türkei, das einen ähnlich starken Wert hatte, starben mehr als 50.000 Menschen. Dass die Junta international um Hilfe ersucht hat, dürfte ein Zeichen dafür sein, wie schlimm die Lage in dem armen Land wirklich ist.

Übrigens hält das Erdbeben die Militärführung laut BBC nicht davon ab, Ziele im Nordwesten des bürgerkriegs- und nun auch erdbebenversehrten Landes zu bombardieren.

  • Die ganze Geschichte hier: 15 Herzschläge und ein Berg aus Schutt 

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Gewinner des Tages…

...ist Armin Laschet. Wie die »Bild«-Zeitung berichtete, wurde der frühere NRW-Ministerpräsident im Sommer vergangenen Jahres mit fast 100 Kilometern pro Stunde in der Aachener Innenstadt geblitzt. Die Konsequenz: eine Geldstrafe, zwei Punkte in Flensburg, einen Monat Fahrverbot.

Warum er dennoch ein Gewinner ist? Der Polizei gegenüber gab Laschet, der derzeit als möglicher nächster Außenminister gehandelt wird, an, er sei so schnell gefahren, weil ihm Unbekannte mit einem Auto dicht gefolgt seien. Er habe sich bedroht gefühlt. In seiner Zeit als Ministerpräsident habe er Morddrohungen erhalten. Deshalb sei er so schnell gefahren. »Das war eine aufwühlende Begebenheit, die mich sehr bewegt hat«, so Laschet zur »Bild«. Es zeigt einmal mehr, wie viel Politikerinnen und Politiker einstecken müssen. Solch offenen Worten über die eigene Verletzlichkeit gebührt Respekt.

  • Armin Laschet mit 97 in Tempo-50-Zone erwischt

Die jüngsten Meldungen aus der Nacht

  • Trump pocht auf Rohstoffdeal mit der Ukraine – oder es gibt »große, große Probleme«: Das Weiße Haus schielt auf Öl, Gas und seltene Erden der Ukraine – doch Kyjiw lehnt ein neues Abkommen ab. Nun droht Donald Trump der ukrainischen Regierung unverhohlen.

  • Mann soll bei Grabpflege schwere Waldbrände in Südkorea ausgelöst haben: Er wollte wohl die letzte Ruhestätte seiner Großeltern herrichten – und griff dabei mutmaßlich zum Anzünder: Ein 56-Jähriger wird verdächtigt, die schlimmsten Buschbrände in Südkoreas Geschichte verursacht zu haben.

  • »Wir wollen gar nicht beste Freunde werden«: Im Wahlkampf gaben sich die Parteichefs von SPD und CDU nichts. Jetzt müssen sie sich in Koalitionsverhandlungen zusammenraufen – und die Zeichen stehen offenbar auf Annäherung: So schildert es zumindest Lars Klingbeil.

Heute bei SPIEGEL Extra: Das Millionengeschäft mit Arbeitgebersiegeln

»Bester Arbeitgeber«, »Topunternehmen«: Firmen geben viel Geld für Titel aus, die sie schmücken sollen. Nur bringen die den potenziellen Bewerbern wenig .

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.

Ihre Özlem Topçu, Ressortleiterin Ausland

Pikachu im Protestzug, Staatspräsident Erdoğan: Vielen ein Lächeln ins Gesicht gezaubert

Foto: [M] ismailkoceroglu  / Instagram; TUR Presidency  / Murat Kula  / Anadolu  / picture alliance

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Längst nicht alles Gold, was glänzt: Wie gut Arbeitgeber wirklich sind, lässt sich an Auszeichnungen selten ablesen

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[M] DER SPIEGEL; Paul Hudson / fStop / Getty Images

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