Diesen BVB wird die Champions League vermissen

Ein Wunder von Westfalen? »Suspension of disbelief« nennt man es, wenn sich Menschen so vollends auf eine Geschichte einlassen, dass sie uneingeschränkt mitfiebern – allen Logiklöchern und Unwahrscheinlichkeiten zum Trotz. Um an das Weiterkommen Borussia Dortmunds zu glauben, an das Aufholen eines Vier-Tore-Rückstandes gegen den vor Kraft strotzenden FC Barcelona, braucht es davon eine ganze Menge.

Im Ruhrpott haben sie diesbezüglich den Dreh raus: Das Westfalenstadion glaubte. Verpatzte Seitenwechsel auf Wunderkind Lamine Yamal wurden frenetisch gefeiert, Barça-Stürmer Robert Lewandowski bei jedem Ballkontakt leidenschaftlich ausgebuht, und als Schwarz-Gelb sich erst über einen Elfmeterpfiff, dann über das frühe Führungstor durch Serhou Guirassy freuen durfte (11. Minute), sprengten die wundergläubigen Borussen jeden Dezibelmesser. Sie würden doch nicht etwa..?

Das Ergebnis: Nein, natürlich nicht. Aber immerhin: 3:1 (1:0) gewinnt Borussia Dortmund zuhause gegen den FC Barcelona, der BVB bringt den Katalanen die erste Niederlage im Kalenderjahr 2025 bei. Ins Halbfinale der Champions League zieht trotzdem Barça ein, zu schwer wiegt die 0:4-Pleite der Borussia aus dem Hinspiel vor einer Woche. Den Spielbericht zur kleinen Wiedergutmachung von Dortmund finden Sie hier.

Das vorletzte Aufgebot: BVB-Trainer Niko Kovač musste bei der Aufstellung ein bisschen puzzeln: Abwehrchef Nico Schlotterbeck fehlt ohnehin lange, kurzfristig fielen auch Carney Cukwuemeka und Emre Can aus, dessen Kapitänsbinde auf Torwart Gregor Kobel überging. Kovač befand den Kader dennoch für üppig genug, den eigentlichen Vize-Spielführer Julian Brandt nach Wochen des Formtiefs auf der Bank zu parken. »Julian hat zuletzt viel gespielt«, moderierte Kovač die Ausbootung. »Wir wollen heute mit drei Stürmern spielen.« Flucht nach vorne im 3-4-3, so lautete der BVB-Matchplan.

Die Brechstange als Plan A: Das klappte prima. Wieder einmal sah der Vorjahresfinalist aus Dortmund wie eine Schläfereinheit aus, die ihre Tarnidentität als durchschnittliche Bundesligamannschaft mit dem Erklingen der Champions-League-Hymne ablegt. Dortmund startete mit einer Spielweise in die Partie, wie man sie sonst nur von Mannschaften sieht, die in der Schlussphase alles nach vorne werfen: Das Messer in jedem Zweikampf zwischen den Zähnen, bereit, riskante Pässe zu spielen und die Duelle Mann gegen Mann zu suchen. Das war nicht immer blitzsauber, doch der Kampf um zweite Bälle ging nicht nur oft zu BVB-Gunsten aus, er brachte Barça auch um die defensive Ordnung.

Die Gier in Guirassy: Sofort war im Fünfmeterraum des FC Barcelona Alarm. Immer im Mittelpunkt: Dortmunds Torjäger Guirassy. Der stocherte den Ball in unfrewilliger Koproduktion mit Abwehrmann Pau Cubarsí auf Wojciech Szczęsny im Tor der Katalanen (5.), verpasste dann im Sitzen die nächste Chance (6.). Nach Szczęsnys Foul an Startelf-Rückkehrer Pascal Groß, der im Hinspiel gelbgesperrt gefehlt hatte, legte sich der Mittelstürmer den Ball zum Elfmeter zurecht und lupfte lässig zur Führung in die Mitte (11.).

Guirassy sollte auch die nächsten beiden BVB-Tore verantworten, verabschiedet sich mit 13 (!) Treffern aus der Königsklasse. Damit löste er sein Gegenüber Robert Lewandowski in einer klubinternen Statistik ab: Zu Anpfiff hatten sich Guirassy, Lewandowski und Erling Haaland mit je zehn Toren den Titel des besten BVB-Torschützen in einer Champions-League-Saison geteilt, nun ist Guirassy weit voraus.

BVB-Tore im weiteren Sinn: Kaum hatte Guirassy zum ersten Mal geknipst, schien Groß auch schon nachzulegen. Schiedsrichter Maurizio Mariani und sein Gespann aber erkannten zu Recht auf Abseits (16.). Der BVB spielte bewusst mit viel Risiko gegen die hoch stehende Abwehrlinie der Gäste, wie Groß später erläuterte: »Da geht es dann ums Timing, um ein paar Meter manchmal«, ärgerte sich der Beinahe-Torschütze.

Nach dem verpassten Doppelschlag kam Barcelona besser in die Partie, die starke Defensive um Niklas Süle und Ramy Bensebaini aber war stets dazwischen. Manchmal allerdings zu vehement: Minuten nach Guirassys Kopfball zum 2:0 schoss Bensebaini dem BVB den Ball versehentlich selbst ins Tor (54.), der eingewechselte Julian Brandt steuerte einen zweiten Abseitstreffer bei. Insgesamt sechsmal lenkte ein Dortmunder den Ball an diesem Abend ins Tor, es reichte trotzdem nur zum 3:1.

Letzte Ausfahrt Bundesliga: Am Ende waren die Dortmunder dann doch irgendwie angefasst vom Zauber dieses Champions-League-Abends. Wohl auch, weil unsicher ist, wann der nächste folgen wird. »Ich hab noch nicht so viele Spiele für Borussia Dortmund gemacht, wo wir so füreinander eingestanden sind, wo wir so gekämpft haben«, sagte Süle später – und verwies darauf, dass ein solcher Auftritt nun auch in der Bundesliga folgen müsste. Dort muss der BVB in fünf Spielen sechs Punkte auf RB Leipzig aufholen, wenn die erneute Qualifikation für die Königsklasse gelingen soll. Für Barça geht die Reise indes weiter, im Halbfinale warten Inter Mailand oder der FC Bayern München.

Niko Kovač, gestenreich coachend: Dem Wunder so nahe wie irgend möglich

Foto: Dean Mouhtaropoulos / Getty Images

Der Jubel des FC Barcelona galt an diesem Abend nur einem Dortmunder Eigentor

Foto: Matthias Schrader / AP

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