Liebe Leserin, lieber Leser,
wie stellen Sie sich ein Vogelnest vor? Erscheint vor Ihrem geistigen Auge ein Konstrukt aus Zweigen oder Schilf, weich gepolstert mit Moos, darin ein paar nackte Vögelchen, die mit weit aufgesperrten Schnäbeln die Rückkehr von Mutter oder Vater erwarten?
Solche Bilderbuchnester gibt es noch. Vor allem in Städten aber bestehen die Unterkünfte mittlerweile größtenteils aus Plastikmüll. Und auch außerhalb von Metropolen werden in vielen Nestern ein paar Verpackungsreste verbaut.
Kaum jemand weiß das besser als Auke-Florian Hiemstra. Er ist Biologe am Naturalis Biodiversity Center im niederländischen Leiden. Gerade schreibt er seine Doktorarbeit. Dafür hat er unter anderem erforscht, aus welchen bizarr scheinenden Materialien die Vögel im Anthropozän ihre Nester bauen. Manche Krähen und Elstern konstruieren sie etwa ausgerechnet aus jenen Drahtzinken, mit denen Vögel eigentlich daran gehindert werden sollen, sich auf Häusern und Brücken niederzulassen.
In Amsterdam untersuchte Hiemstra die Nester von Blesshühnern. Die Wasservögel sind seit Ende der Achtzigerjahre auch in der niederländischen Großstadt heimisch. In der dicht bebauten und von Kanälen durchzogenen Innenstadt finden die gefiederten Zuwanderer kaum Schilf oder Zweige, dafür aber Müll ohne Ende.
Und so entdeckte Hiemstra in den Brutstätten der Blesshühner unter anderem Fast-Food-Verpackungen, Milchtüten, Corona-Schutzmasken, Scheibenwischerblätter, In-Ear-Kopfhörer, Feuerwerkskörper, Kondome und Kokaintütchen.
Manche Nester, fand Hiemstra außerdem heraus, werden von vielen Blesshuhn-Generationen genutzt. Eines war sogar seit mehr als dreißig Jahren immer wieder mit neuen Lagen von Plastikmüll ausstaffiert worden. Das Alter mancher Schnipsel konnte der Forscher einfach ablesen – weil das Haltbarkeitsdatum ihres Inhalts noch gut lesbar war.
Für den Forscher sind die urbanen Nester »traurig, seltsam und wundervoll« zugleich. Sie sind einerseits Ausdruck eines der größten Umweltprobleme unserer Zeit. Andererseits, sagt Hiemstra, »bauen die Vögel ein wunderschönes Nest aus diesem ganzen verrückten Zeug – und dann nutzen sie es über Jahrzehnte«.
Daran, meint er, könne sich der Mensch ein Beispiel nehmen.
In seiner Bluesky-Story zeigt Forscher Hiemstra Bilder vom Inhalt der Nester.
Meinen Text können Sie hier nachlesen.
Werfen Sie nicht so viel weg!
Herzlich,
Ihre Julia Koch
Außerdem empfehle ich Ihnen:
Deutschland sucht den Superrechner: Quantencomputer gelten als wichtige Zukunftstechnologie, die USA mit ihren Techkonzernen führend bei deren Entwicklung. Noch .
Woher kam Sars-CoV-2? Hat ein Laborunfall die Coronapandemie ausgelöst? Seit fünf Jahren hält die Bundesregierung Indizien zum Ursprung des Virus zurück. Die Geheimniskrämerei vergiftet die wissenschaftliche Moral.
Falsche Fastenversprechen: Eine Epidemiologin entlarvt Ernährungsmythen, warnt vor der Abnehmspritze und erklärt, was man essen sollte, um seine Lebenserwartung deutlich zu steigern.
Mehr Monde als gedacht: Forschende haben den Saturn genauer beobachtet – und Objekte gefunden, die sie zunächst nicht zuordnen konnten. Dann wurde klar: Es sind Monde.
Lassen sich F-35-Jets aus der Ferne stilllegen? Deutschland kauft 35 Tarnkappenjets aus den USA. Doch es gibt Zweifel, ob die Maschinen im Krieg in jedem Fall funktionieren würden – und Spekulationen über einen geheimen Notausschalter.
Bild der Woche
(Feedback & Anregungen? )
Wissenschaftler Hiemstra mit Blesshuhnnest: »Traurig, seltsam, wundervoll.«
Foto: Hielco KuipersWas aussieht wie der Palast von Disneys Eiskönigin, ist in Wahrheit ein Mahnmal des Klimawandels: Steigende Temperaturen lassen Teile des Morteratsch-Gletschers bei Pontresina im Schweizer Engadin tauen, das Schmelzwasser höhlt den Gletscher von innen aus. So entstehen bizarr anmutende Formationen aus bläulich schimmerndem Eis. Die Höhlen sind zeitweilige Besucherattraktionen, Nervenkitzel inklusive: Wenn es zu warm wird, können sie einstürzen.
Foto: Denis Balibouse / REUTERS