Der SPD-Politiker Aziz Bozkurt, Staatssekretär bei der Berliner Sozialsenatorin, kritisiert das Vorgehen der Parteispitze beim SPD-Mitgliedervotum. »Es braucht keine Alibi-Abstimmungen«, sagte Bozkurt dem SPIEGEL. »Wenn es keine Alternative gibt, die aus einem ›Nein‹ resultiert, dann sollte die Führung keine Abstimmung ansetzen. Sonst verkommt die innerparteiliche Demokratie zur Folklore.« Es sei falsch von der SPD-Führung gewesen, weitere Gespräche mit der Union auszuschließen, so Bozkurt.
Der Sozialdemokrat bezieht sich damit unter anderem auf Aussagen des SPD-Chefs Lars Klingbeil, der erklärt hatte, dass ein Nein zum Koalitionsvertrag wohl eine Minderheitsregierung der Union oder Neuwahlen zur Folge hätte. »Ein Ablehnen des Koalitionsvertrages wird nicht zu Nachverhandlungen führen«, sagte der Parteichef bei einer Veranstaltung in Hannover. Andere Mitglieder der Parteiführung hatten sich zuletzt ähnlich geäußert.
Dass der Parteivorsitzende Nachverhandlungen ausgeschlossen habe, sei »ein Zeichen von Schwäche«, sagte Bozkurt. Ein Koalitionsvertrag brauche »vielleicht doch ein paar Diskussionsstunden länger, um nicht alle Versprechen mit einem ›Finanzierungsvorbehalt‹ zur tickenden Bombe zu machen. Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit.«
Was die Parteiführung teilweise als Verhandlungserfolge feiere, seien in Wahrheit keine, so Bozkurt. »Ein Beispiel ist der Mindestlohn.« Die Erhöhung des Mindestlohns, wie sie im Koalitionsvertrag stehe, habe sich die Mindestlohnkommission in ihrer Geschäftsordnung schon längst vorgenommen. »Dafür braucht es keinen extra Vertrag«.
Auch in der Migrationspolitik konzentriere sich der Vertrag nicht auf das, was wirklich möglich und nötig sei. »Man kann in der Migrationspolitik ›härter‹ Politik machen, es muss aber rechtlich sauber sein, darf das Asylrecht nicht infrage stellen und tatsächlich eine Strategie ergeben«, sagte Bozkurt, der ebenfalls die Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt in der SPD leitet. »Was wirklich helfen würde, wäre etwa die Verstärkung der Sicherheitsbehörden.«
Die SPD verpasse es, die realen Probleme von Menschen zu lösen und damit wieder mehr Zusammenhalt zu schaffen, sagte Bozkurt. »Eine individualisierende Politik, die Antworten für Dich sucht und nicht mehr für das Wir, ist keine gute sozialdemokratische Politik.«
Die aktuelle Debatte über den Koalitionsvertrag in der SPD lege »erschreckend den Vitalitätszustand der Organisation offen«, so Bozkurt. »Die SPD zeichnet das Bild einer Organisation, in der nicht ein Fünkchen Feuer lodert.« Die Parteiflügel seien mit Blick auf mögliche Ämter gelähmt, eine inhaltliche Debatte finde kaum statt. »Damit mag man sich in eine Regierung schleppen, aber in der Gesellschaft entfacht man keine Begeisterung.« Die SPD sei nie ein einfacher Kanzler-Wahlverein gewesen. »Ein Vize-Kanzler-Wahlverein sollte sie erst recht nicht werden.«